Die Azidose-Therapie nach Dr. med. Renate Collier

von Dr. Ac. Reimund Grewe
 
Worum geht es bei der Azidose-Therapie? Was wird tatsächlich therapiert?
 
Es geht - wie im Grunde bei allen Naturheiltherapien - um den ganzen Menschen. Auch mit der Azidose-Therapie wird der ganze Mensch behandelt, und zwar am Ursprungsort seines Unbehagens oder seiner Erkrankung.
Jede gesundheitliche Störung nimmt ihren Anfang in einer Übersäuerung des Organismus. Das bedeutet, dass sich der pH-Wert im Zellmilieu verringert, wofür Faktoren wie einseitige bzw. übermäßige Ernährung oder Stress in Frage kommen. Zu Beginn wirkt sich diese so genannte latente Azidose noch ganz unauffällig aus: Wir werden nervös, gereizt, sind schnell oder ständig müde, reagieren überempfindlich auf Essen, Mitmenschen u.a. starke Reize. Als nächstes klagen wir z.B. über Schlaflosigkeit, innere Unruhe, Verspannungen inklusive Kopfschmerzen und andere mehr oder weniger diffuse Schmerzzustände - alles als vegetative Dysregulationen abgetane Symptome -, die man nicht ernst nimmt oder gegen die man schnell eine Tablette zur Hand hat.
Viel später manifestiert sich - an der schwächsten Stelle unseres körperlich-seelischen Netzwerkes - die organische Schädigung. Nun leidet man an einer Krankheit, oftmals kommt es zu so genannten Systemerkrankungen wie Rheuma, Krebs und Burnout, und schwere Geschütze zu ihrer Bekämpfung werden aufgefahren. Die Azidose-Therapie ist eine ursächliche Therapie, die am Anfang dieser Verkettung ansetzt. Sie muss von daher immer auch als Prophylaxe gesehen werden, auch wenn sie sich immer wieder bei der Behandlung schwerer chronischer Erkrankungen bewährt.
 
Was hat es mit dem etwas geheimnisvollen Begriff der Übersäuerung auf sich?
 
"Ich bin sauer!", sagt uns darüber schon eine ganze Menge. Schulmedizinisch präzise ist es, von der Übersäuerung des Bindegewebes zu sprechen, noch genauer von der Einlagerung saurer Stoffwechselprodukte in so genannte kollagene Fasern, die Teil der Grundsubstanz für den Aufbau aller unserer Organe sind.
Die klinischen Begriffe der Azidose und Alkalose beziehen sich zumeist auf den pH-Wert des Blutes, der notwendigerweise konstant bei 7,4 bleibt. Dies erfordert eine große Arbeitsleistung des Organismus, die wir als gegeben voraussetzen. Tatsächlich ist unsere Ernährung normalerweise ausgesprochen säureüberschüssig. Alle aus der Nahrung extrahierten Stoffe gelangen ins Blut (bzw. die Lymphe). Da der Säure-Basen-Haushalt für jedes Milieu innerhalb enger Bandbreiten stabil bleiben muss, müssen die säurelastigen Verbindungen entweder ausgeschieden oder gepuffert werden. Vor allem über die Nieren, die Lunge und die Haut geben wir Säure mit dem Harn, der Atmung und dem Schweiß ab. Auf Dauer, d.h. bei einer chronisch säureüberschüssigen Ernährung, Bewegungsmangel und Stress, kommen diese Ausscheidungsorgane mit der Entsorgung nicht mehr nach - die Säuren werden im Zwischenzellraum, also außerhalb der Blutbahnen, aber noch nicht in den Zellen abgelagert, so dass unsere Zellen nun - gleichsam den Fischen nach einer Säureverklappung - in einem zunehmend sauren Milieu schwimmen.
 
 
Woher kommt die Säure genau?
 
Die kollagenen Fasern des Bindegewebes sind prädestiniert, säureüberschüssige Nährstoffe vor allem aus dem Eiweißstoffwechsel zu binden. Das ist physiologisch sinnvoll und dient als Speicherung für Notzeiten. Unser Problem heute ist, dass diese Speicher kaum entlastet werden - wie traditionell in der kargen Winterzeit oder zu Fastenzeiten - und damit mehr einer Deponie gleichen, wo immer neue Überschüsse abgeladen werden. Als Konsequenz verschlackt das Gewebe zunehmend, wie man leicht an sich selber mit einem Hautfaltengriff feststellen kann. An vielen Körperpartien, etwa dem unteren Rücken, lässt sich das Bindegewebe von der darunter liegenden Muskulatur kaum abheben. An anderen Stellen, wie dem Nacken und den Oberarmen kann man zwar eine oft als Fettpolster missbezeichnete Hautfalte greifen, aber das geringste Zusammendrücken dieser Falte bereitet starke Schmerzen. In beiden Fällen liegt eine Gewebeübersäuerung vor. Bindegewebe mit neutralem oder leicht basischem Milieu schmerzt beim Zusammendrücken nicht.
Die Übersäuerung ist grundsätzlich ein Stoffwechselproblem. Das rührt vor allem daher, was wir uns zum Verstoffwechseln zumuten. Seit den 1920er Jahren empfehlen einzelne Mediziner deshalb eine vierfach basenüberschüssige Kost, im Krankheitsfall mehr.
Neben dem Zuviel des Nahrungsangebots kommt dazu, dass bei Bewegungsmangel und Stress auch das beste Essen und die gesündeste Nahrung sauer verstoffwechselt werden, weil schon die Verdauung vorher eingeschränkt und unvollständig ist. Mit der Nahrung nehmen wir jede Menge bekämpfenswerter Fremdstoffe, besonders Fremdeiweiße auf, weshalb man bei überempfindlichen Reaktionen auch von Nahrungsmittelallergien spricht. Von besonderem Interesse ist hierbei die Milchallergie. Bei vielen Menschen führt die jahre- und jahrzehntelange Überbeanspruchung unseres Immunsystems durch eine Übereiweißernährung zu einer Veränderung der Magen-Darm Funktionen und zu einer im reifen Alter schlechteren Verträglichkeit gerade der "gesunden" Vollwertkost. Auch sind praktisch alle Kinderkrankheiten inklusive deren Folgen, wie die Verkettung der Neurodermitis und des allergischen Asthmas, auf solche Überempfindlichkeitsreaktionen zurückzuführen.
 
Die Philosophie der Azidose-Therapie
 
Krankheiten müssen an ihrer Wurzel bekämpft werden. Die Azidose-Therapie geht davon aus, dass es eine Wurzel für alle Krankheiten gibt. Alle verschiedenen Symptome sind Regulierungsversuche des Organismus, zu seinem Soll-Gleichgewicht zurückzufinden. Befindensstörungen müssen nicht zu Krankheit führen, sondern sind reversibel. Die durch die Azidose-Therapie initiierte Entsäuerung und Entgiftung - zusammen mit der Umstellung oft lieb gewonnener Verhaltens- und Ernährungsweisen – heilt nachhaltig, da sie dem Organismus wieder eine reibungslose Selbstregulierung ermöglicht. Die Nichtbeachtung der vielen Botschaften unseres Körpers - und sicher auch Geistes - verursacht Schmerzen und Depressionen. Krankheit und Schmerz sind die Winke mit dem Zaunpfahl. Jeder Schmerz geht auf eine Blockade zurück, hinter der sich ein saures Milieu gebildet hat. Die Standbeine der Azidose-Therapie sind deshalb Ernährungsumstellung, manuelle Therapie in Form spezieller Bindegewebs- und Lymphmassagen Bewegungsübungen, Darmreinigung und Lifestyle-Training.
Die Mitarbeit der "Entsäuernden" ist maßgeblich: man kann sich selber massieren, den Harn kontrollieren, sich selbst mit seinen konstitutionellen Merkmalen besser verstehen lernen und einen neuen Sinn für die Essenszubereitung und -aufnahme gewinnen. Das alles sind natürliche Erfahrungen, für die man keine Diät einhalten muss, sich nicht verbiegen muss und auch nicht alle Angewohnheiten ablegen muss. Was es braucht, ist, dass einem eine gewisse Auseinandersetzung mit sich selbst Freude bereitet und es ein Interesse an der eigenen Gesundheit – Gesundwerdung wie Gesunderhaltung – gibt.