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Laufen als Metapher

Artikel von Gaston Saint-Pierre

von Gaston Saint-Pierre

Am frühen Morgen, zu beiden Seiten des schmalen Weges, der parallel zum Fluss verlief, schimmerten die hohen kristallinen Hänge der Berge in einem Licht, das noch nicht durch die Strahlen der Sonne gedämpft wurde. Das würde später kommen, die Luft war schon schwer vor Hitze. Die Morgendämmerung erwachte, ließ Lichttentakel von der Felsenoberfläche und hinter dem Mantel grüner Eichen hervorbrechen, Wächter auf schmalen Felsenhängen.

Sein Atem war kurz, der Rhythmus seiner Schritte kaum auszumachen. Würde es möglich sein, die acht Kilometer innerhalb der festgesetzten Zeit zu bewältigen und sogar noch weiter zu laufen, bevor er denselben Weg zurückkehrte, um in den Teich unterhalb des Wasserfalls einzutauchen? Der Körper reagierte nicht. Der Respekt für ihn und seine Müdigkeit legte es nahe, den Lauf zu einem zügigen Gehen zu verlangsamen – die gleiche Methode, die er angewendet hatte, als er mit dem Laufen begann.

Er sah sich selbst, wie er in früheren Jahren den Pfad erklommen hatte, der hinter dem Zentrum, in dem er lehrte, direkt auf den Berg führte. Anfangs war es eher ein Gehen als ein Laufen gewesen. Die Milchsäure quälte seine Schenkel. Auf dem Weg nach unten, am Ende der Tour, wollten die Knie nachgeben. Blut färbte die Socken, als sich die Nägel der großen Zehen, die vorn gegen den Schuh stießen, von dem Fleisch unter ihnen lösten.

Er wurde jedoch entschädigt. Es war so lohnend, während der täglichen ersten Stunde des Seminars, der Zeit des gemeinsamen Austausches, von dem überraschten Hirsch zu berichten, der beim morgendlichen Äsen unterbrochen worden war, oder von dem silbrigen Filigran, das die Schnecken auf dem Grasweg hinterlassen. Dort war ein Baum mit schwachen Wurzeln unter dem Angriff des nächtlichen Sturmes gestürzt, und da...da... Ah! Der Falke!
Oben auf dem Berg wurde der Weg eben und schlängelte sich auf der Höhe der runden Bergkette entlang. Mitten im Tal nistete das alte Kloster, das in ein Seminarzentrum ungewandelt worden war.

Jeden Tag wurde der Lauf länger. Dies war der Morgen, an dem neue Horizonte offenbart werden würden. Er war früher losgelaufen, denn wer konnte schon wissen, wohin der Weg nach dem 90 Grad-Winkel führen würde, an dem er gestern umgekehrt war? Würde der Pfad abwärts oder zu neuen Höhen führen?

In den Gipfeln der sehr hohen Kiefern bewegte sich etwas. Er entschuldigte sich bei dem Vogel, der wohl geweckt und von seinem Sitz gefallen war. Ein Luftzug streifte ihn von hinten, und der Falke flog bis auf wenige Zentimeter auf den Kopf des Läufers zu. Die Angriffe erfolgen viermal auf einem geraden Stück des Weges, bis die Bäume ein dichtes Schutzdach bildeten. Zwei Tage später - er hatte beschlossen, einen Tag zwischen den Läufen auszuruhen - war sein Tempo sehr viel schneller, der Atem stark und laut. An der Abzweigung erhob sich – genau in diesem Moment – auf seiner Brusthöhe der Falke und vermied haarscharf eine Berührung mit dem Kopf, als er sich zu den Gipfeln der Bäume emporschwang und den Störenfried erschreckte. Die Angriffe wiederholten sich ohne Unterlass, der Wind von den Flügelschlägen richtete seine schweißgetränkte Haare auf. Was für eine Geschichte für den morgendlichen Austausch!

Beim nächsten Mal wurde der Berg mit noch höherer Geschwindigkeit erklommen. Als er fast auf der Spitze des Berges angekommen war – atemlos und mit schmerzenden Gliedern – musste der Läufer langsamer werden, fast ins Gehen kommen ... Der Krach eines rasenden Motorrades erreichte ihn von der anderen Seite des Berges. Sofort nahm der Läufer seinen Trab wieder auf . Er wollte von diesem Rennfahrer, der nicht einmal seine Grüße erwiderte, nicht beim Gehen gesehen werden. Die Frage stellte sich. Für wen lief er? Für wen war es notwendig, einen bestimmten Schein aufrecht zu erhalten? Lief er zur Unterhaltung von anderen? Für wen geschah der Wettkampf gegen sich selbst, für wen musste er gegen seine physischen Grenzen angehen? Wessen Ego wurde damit gedient? Für wessen Verstand wurde die Energie der körperlichen Bewegung erzeugt? Laufen war zu einer Metapher seiner Suche nach Einheit geworden, nach Erleuchtung. Die Suche impliziert ein Ziel, von hier nach da, Dualität. Die Zwei würden niemals zusammenkommen.

Und jetzt, zu dieser Straße... Erst gestern hatte ein Freund eingewilligt, ihn mit dem Auto zu einem Punkt zu fahren, der genau 10,5 Kilometer vom Ausgangspunkt entfernt lag. Wenn er eine bestimmte Kurve der Straße erreichen würde, kurz vor den Grenzen eines kleinen Dorfes, und umkehren würde, wären das 21 Kilometer, die Hälfte der Marathonstrecke. Es wäre ruhmreich, sagen zu können, dass er jeden zweiten Tag einen halben Marathon liefe.

Gurus versprechen, dass das Licht am Ende des Weges gefunden werde, dass die Erleuchtung erreicht werden kann, wenn eine bestimmte Übung gemacht wird, gewisse Rituale eifrig praktiziert werden, durch Glaube und Hoffnung. Mit süßen Stimmen wird das Herz zum Erwachen gelockt, der Gebetsruf wird unaufhörlich wiederholt.

An diesem Morgen, auf diesem Weg, dem er fast zerstreut folgte - er hatte den stürmischen Rhythmus des Flusses vergessen und sich auf den ruhigen Rhythmus der Berge eingestimmt -, wandte sich seine Aufmerksamkeit sanft den Lichtstrahlen zu, die von seinem Körper ausgingen und sich mit denen vermischten, die von der Gesteinsoberfläche, vom Asphalt, von den grünen Eichen ausströmten. Kein Ziel, kein Weg. Es gab nur das Gehen, es gab nur das Licht.

Warum Fragen stellen, wenn jedes Ereignis, als Summe aller Ursachen, das Produkt des gesamten Universums ist?
Wenn jedes Ereignis, als Summer aller Ursachen, das Produkt des gesamten Universums ist, warum dann Fragen stellen?
Es gibt einen genau bestimmbaren Moment, in dem die Welt wunderbar ist: Jetzt.“
(Alexander Jodorowsky, L’arbre du dieu perdu)