Veröffentlichungen
Spiritualität als Alibi
Artikel von Gaston Saint-Pierre
© Gaston Saint-Pierre
Juni 2004
Möchtest du gern ein kleines Spiel mitmachen? Es dauert nicht lange. Also, lies den nächsten Satz bis zum Ende und versprich, danach zu handeln. Steh auf, nimm dieses Buch oder dieses Blatt, geh damit ins Badezimmer und sieh dich selbst im Spiegel an - ein langer, sozusagen neugieriger Blick, dann halte inne. Lege dieses Blatt oder dieses Buch wieder ab und schau noch einmal hin.
Wenn du diese Worte liest, bedeutet das, du betrachtest dich nicht länger im Spiegel mit diesem langen Blick voller Neugierde. Dann setzen wir dieses Spiel jetzt fort. Nachdem du diesen Satz gelesen hast, schau in den Spiegel und stell dir vor, du bist ein Fremder, den du das erste Mal triffst. Du erkennst diese Gesichtszüge nicht, sie sind dir total fremd. Geh hinter die Maske, die dir in die Augen schaut. Versuchst du es so gut du kannst? Investiere deine Energie nicht in den Versuch. Tu es einfach. Hast du Erfolg? Unmöglich?
Was ist Emotion? Eine Bewegung von hier nach da, eine Richtung. Eine Bewegung des Seins, die dich drängt, zu erkennen was du bist, durch das, wer du bist. Wer du bist ist was du bist. Die Physiker stimmen heutzutage mit den Mystikern der Vergangenheit überein, wenn sie sagen, dass Materie kristallisiertes oder gefrorenes Licht sei. Alle deine Körperzellen sind dieses Licht, die Empfindungen, die Gedanken (ein subtile Form der Materie), die Luft, die du atmest und das, was du isst. Emotion weist auf diese Einheit hin, aber dieser Hinweis ist eine zweckmäßige Annäherung, er ist nicht die Sache selbst. An der Schnittstelle zwischen der materiellen und der mystischen Welt löst die Emotion einen Zusammenbruch der Grenze zwischen beiden aus. Dies geschieht an der Oberfläche einer jeden einzelnen Körperzelle.
Du bist in tiefer Kontemplation versunken. Ein Wort dringt ans Trommelfell: Weintrauben? Ein Gefühl dieses runden Objektes zwischen halb geöffneten Lippen entsteht. Das menschliche Tier in dir (aber wer ist dieses Du?) heißt die Frucht willkommen, zerbeißt sie zwischen den Zähnen, während die Flüssigkeit die Geschmacksknospen erweckt. Da ist Süße im gesamten Körper. Es gibt keine Frucht, keinen Körper, niemanden, die Süße und das Licht der Frucht ist die Süße und das Licht des Körpers. Einheit. Es gab keine Bewegung, die darauf abzielte, zum Licht der Frucht zu werden, keinen Verstand, keine Emotion. „Trinkt diesen Wein, er ist mein Blut“.
Was ist Schwelgen? Ist es eine Gefühlsduselei? Ist es eine Aktivität wie die, sich in einer Phantasie zu verlieren oder eine Neigung, eine Hoffnung oder ein Verlangen zu pflegen? Man sucht eine Befriedigung, eine Vorliebe wird bestärkt, man frönt einer Gewohnheit. Wir sind gut verankert in der Welt der Dualität, von da nach hier und weiter, von damals bis jetzt und hin zu einem zukünftigen Ersatzmoment. Es sind nur wenige Schritte von sanfter Nachsicht zu krankhafter Reizbarkeit oder morbider Überaktivität mentaler Kräfte oder Leidenschaften - der Kampf für den Frieden, Asketentum, Süchte, Fettleibigkeit....
Der Geist ist eine beseelende Kraft: der Atem, den das Leben benutzt, um sich selbst geschwind in die Existenz zu senden. Aufgrund unserer begrenzten mentalen Möglichkeiten - letztlich ist unser Verstand nur ein sehr einfaches Werkzeug, welches vom Bewusstsein erschaffen wurde, damit wir im Alltag funktionieren können - müssen wir bei dem Versuch zu erkennen, was wir sind, in Kategorien denken. Dabei merken wir nicht, dass der Klang der Tonleitern des übenden Pianisten aus der gleichen Quelle stammt wie die Symphonie: aus der Stille.
Spiritualität - dem Geiste angehörend. Das Wort Lehnstuhl beschreibt ein bestimmtes Möbelstück. Es ist selbst nicht das eigentliche Objekt. Egal, wie oft wir das Wort Lehnstuhl wiederholen, wir werden niemals das Gefühl für ein solides, schön geschnitztes, hölzernes Objekt bekommen. Man kann auf dem Wort nicht sitzen. Spiritualität kann niemals den Geist vermitteln, das wäre so, als ob der Geist nach dem Geist suchen würde. Da die Spiritualität eine emotionale Schwelgerei ist, setzt sie den Sucher neben den Geist, irgendwo anders hin, so als ob es eine Trennung zwischen Geist und Sucher gäbe. Spiritualität hält dich irgendwo anders fest, in der Suche. Sie ist ein Alibi. Wende dich ab von dem Alibi and finde, was du suchst, denn du bist es.
Der Verstand benutzt Spiritualität als eine Selbstverteidigung, um sein eigenes Überleben zu sichern. Als guter Parasit hält er seinen Gastgeber (dich als Ganzes) fern vom möglichen Tatort. Tod? Wessen Tod? Die Todesfälle, die eintreten, wenn einige deiner Muster sich wandeln und eine alte Form fallen lassen, damit die befreite Energie ein neues Du durchdringen kann, welches - noch unmanifestiert - im Energiefeld der alten Form schon anwesend war.
Schau noch einmal in den Spiegel. Musst du eine Reihe von Gesichtern hervorrufen, um ein Stirnrunzeln, ein schüchternes Lächeln, strahlende Augen zu sehen? Schau gut hin und noch einmal und tiefer, tiefer in dein wahres Selbst hinein. Vorsicht, vielleicht verschwindet der Spiegel!
PS. Ein kluger Hund hatte beobachtet, dass sich sein Herrchen lange im Ankleidespiegel betrachtete. Als sein Herrchen weg war, ging der Hund selbst zum Spiegel, sah sein eigenes Spiegelbild und fragte sich: „Warum hat er mich nur so lange angeschaut?“